Im Jahr 2009 formulierte die Reiseautorin Nicky Gardner das Slow Travel-Manifest auf Englisch. Anbei findet sich die von TRAVEL SLOWLY verfasste deutsche Übersetzung.
Ein Manifest für Slow Travel
In den letzten 100 Jahren fand ein subtiler Wandel bezüglich unseres Verständnisses vom Reisen statt. Dantes Reise durch die drei Reiche der jenseitigen Welt kann als fesselnder Reisebericht gelesen werden. Homers Odyssee ist eine ähnlich fabelhafte Reisegeschichte. Trotzdem ist das Reisen irgendwie aus der Mode gekommen. Klar, wir fliegen hierhin und dorthin, aber das Reisen wird selten um seiner selbst willen wertgeschätzt. Stattdessen wird es als geringfügige Unannehmlichkeit gesehen, die irgendwie zwischen Abfahrtsort und geplanter Destination steht. Der Genuss der Reise wird von der erwarteten Ankunft überschattet. Schnell anzukommen ist besser als langsam zu reisen.
Esel wiederentdecken
Aber wo wäre das Reisen ohne all die langsamen Reisen der Vergangenheit? Abenteuer, wie Patrick Leigh Fermors lange Tour durch Europa, Isabelle Eberhardts bemerkenswerte Wanderung durch Maghreb (Anm. d. Verf. nordafrikanische Staaten) oder Freya Starks Eselreisen durch den arabischen Winter.
Esel, so scheint es, sind ein unabdingbarer Bestandteil der Slow Traveller, die sie rückblickend sind. Sie sind angeblich schneller als ein Kamel (wenn Freya Stark Glauben zu schenken ist), jedoch merklich langsamer als Flugzeuge, Züge und Busse. Wenn es Robert Louis Stevenson mit einem Esel völlig wohlauf durch das französische Cévennes-Gebiet schaffte, warum meiden wir nicht alle Züge und nehmen Esel?
Die Modernität bringt Nachteile mit sich. Sogar Mitte des 19. Jahrhunderts beklagte der französische Reiseautor Théophile Gautier bereits, wie ermüdend das Reisen geworden sei. Von einer zur anderen Seite der Postkutsche geworfen zu werden, behauptete er, sei überhaupt kein wahres Reisen. „Da kann man gleich zu Hause bleiben“, schrieb er in Voyage en Espagne (1843). Zwei Jahrhunderte später werden Millionen von Menschen jeden Tag wie Sardinen in gebrechliche Aluminium-Röhren gesteckt, die dann mit etwas weniger als Schallgeschwindigkeit durch den Himmel schießen – und alles im Namen des Reisens.
Entsprechend ist es vielleicht an der Zeit, dass wir unsere Esel wiederentdecken. Oder wenigstens die Vorzüge von langsamen Reisen bedenken. Es ist nicht zwingend erforderlich von London zum Mittelmeer in weniger Zeit, als ein entspanntes Mittagsessen dauert, zu jetten. Es gibt eine Alternative, und zwar eine langsamere Strecke zu wählen.
Bewusste Entscheidungen treffen
Wenn wir langsames Essen und langsame Städte haben, warum nicht auch langsames Reisen? (Anm. d. Verf. Wenn wir Slow Food und Slow Cities haben, warum nicht auch Slow Travel?) Der kanadische Journalist Carl Honoré kritisierte die Geschwindigkeitskultur 2004 gut in seinem Buch In Praise of Slow. Obwohl er die Bandbreite der menschlichen Aktivitäten von Sex bis zum Arbeitsplatz untersuchte, hatte er relativ wenig über das Reisen zu sagen.
In Slow Travel geht es darum, bewusste Entscheidungen zu treffen. Es geht um Entschleunigung, statt um Geschwindigkeit. Die Reise wird zum Moment der Erholung, anstatt eines auferlegten, stressigen Zwischenspiels zwischen Zuhause und Urlaubsort. Slow Travel formuliert Zeit neu, transformiert sie zu einer Ressource des Überflusses, statt des Mangels. Slow Travel formt auch unsere Beziehungen zu Orten neu, ermutigt und erlaubt uns, uns intensiver mit der Gemeinschaft, durch die wir reisen, zu beschäftigen.
Der Slow Traveller spielt nicht dasselbe gefährliche Spiel. Ich mache einen Bogen um das fälschlicherweise als authentisch bezeichnete Geschwätz um „Mein Venedig-Erlebnis“ und gehe stattdessen in die Hintergasse, verweile länger und versuche zu verstehen, was für diese Gemeinschaft wichtig ist. Ich verzichte auf Kaffees von Ketten wie Costas oder Starbucks und nutze lokal betriebene Cafés, esse gute, lokale Produkte, fahre mit lokalen Bussen und versuche Orte zu besuchen, die bei der Bevölkerung vor Ort beliebt sind. Diese stimmen nicht notwendigerweise mit den großen touristischen Sehenswürdigkeiten überein.
Slow Travel – Ein Bewusstseinszustand
Bei Slow Travel geht es nicht um Geld oder Privilegien. Slow Travel ist ein Bewusstseinszustand. Es geht darum, den Mut zu haben nicht mit der Masse zu gehen. Das allgemeine Denken mag vorschlagen, dass bei einem ersten Italienbesuch ein Besuch in Venedig, Florenz und anderen „Must-See“-Orten unabdingbar ist. Aber Tatsache ist, es gibt keine „Must-See“-Urlaubsorte. Die Reisemagazine mit Hochglanzfotos, Reiseanbieter und PR-Agenturen hypen Städte und Regionen, Resorts und Restaurants. Und moderne Touristen reisen von Ort zu Ort, haken Länder, Städte und Ortschaften ab als Wegmarkierungen einer Pilgerreise des Massenkonsums.
Im 20. Jahrhundert wurde Geschwindigkeit mit Erfolg verbunden. Der verführerische Reiz von schnellen Autos, Düsenflugzeugen und Spitzenleistungszügen brachte Reisende von ihrem Weg ab. Nun entstehen neue Prioritäten: Low Impact-Tourismus, sich auf Menschen einlassen, etwas an die Gemeinschaften zurückgeben, die wir besuchen und uns unseres CO2-Fußabdruckes bewusst sein.
Bewegt man sich in komplexeren Geländestrukturen führt der Hochgeschwindigkeitszug zu Desorientierung. Die Schnellzüge der neuen Strecke, die zwischen dem Nordwesten von Frankfurt am Main verläuft, führen zielstrebig durch die bewaldeten Hügel des Taunus, trotzen dabei mit Momenten stroboskopischer Spektakel Neigung und Wölbung der Landschaft, und entlassen nach etwas weniger als einer Stunde ihre desorientierten Passagiere in Köln. Es gibt Lichtblitze zwischen Tunnels, abgebrochene Blicke auf den Himmel und viel Raum für Kopfweh. Es ist mit Sicherheit eine beachtliche, technische Erungenschaft, aber ist mit dem Zug wie eine Pistolenkugel durch den Taunus zu schießen wirklich besser als die alten Strecke am Rheintal entlang nach Köln zu wählen? Dort folgt der Zug dem geschwungenen Lauf des Flusses, gibt wunderbare Blicke auf Dörfer mit Giebeldächern, Weinhänge und romantische Schluchten frei. Klar, die alte Talroute braucht zwei oder drei Mal so lang wie die neue Schnellstrecke, aber die Erfahrung ist unvergleichlich besser. Engagierte Slow Traveller befreien sich möglichweise komplett vom Zug und wählen das Boot für einen Teil der Reise.
Bei der Wahl geht es nicht immer um Zug oder Flugzeug. Einige modernen Züge sind viel zu schnell um eine ernstzunehmende Wertschätzung für die vorbeifahrende Landschaft zu entwickeln. Man kann mit dem Eurostar durch das flache Flandern fahren und eine berauschende Erfahrung machen.
Langsame Orte
Als Reiseautorin finde ich den Prozess einen Ort zu erleben als bedingt phänomenologisch. Ein innerstädtischer Platz wurde nicht für Touristen entworfen und entstand eher im Kontext des alltäglichen Lebens. Er verdient mehr als einen kurzen Blick – Stadtlandschaften sind da, um beobachtet und ins Detail untersucht zu werden. Sie sind Anstoß zur Meditation und erst später können Wörter folgen. Und was für Städte gilt, gilt genauso oder noch mehr für ländliche Ortschaften. Aber diese Art der Welt zu begegnen ist nicht ausschließlich Reiseautoren vorbehalten, noch können Reiseautoren das Konzept für sich beanspruchen. Es handelt sich um Herangehensweisen, die Teil des Orchesters der Weltanschauung seit Jahrhunderten sind. Französische Geographen, wie Vidal de la Blache tauchten in die Umgebung ein, die sie erkundeten. Nur jetzt werden die Ansätze von einem größeren Publikum entdeckt.
Wie fängt man die Essenz einer Region oder eines Landes wirklich ein? Verstehe ich die U.S.A. besser, wenn ich einen Monat in New York verbringe, eine Rundreise durch alle 50 Hauptstädte der Staaten mache (einige von ihnen befinden sich in unglaublich abseits liegenden Gegenden) oder langsam von Küste zu Küste fahre und der Bewegung der sich veränderten Landschaft und Ortschaften entlang der Strecke folge? Reisende werden sich langsam bewusst, dass sie wahrhaften Entscheidungen gegenüberstehen. Eine Woche in einem ländlichen Dorf der Provence kann möglicherweise zu einem besseren Verständnis von Frankreich führen, als je ein Tag in sieben verschiedenen französischen Städten. Eine Tageswanderung durch die Vororte von Berlin, die Stadtdurchquerung von Ost nach West und zurück, wird mit Sicherheit ein besseres Verständnis des Alltagslebens der deutschen Hauptstadt bieten, als eine Tour entlang der Hauptsehenswürdigkeiten.
Slow Travel üben
Es ist einfach Slow Travel zu üben. Fange zu Hause an. Erkunde deine direkte Umgebung. Lasse das Auto zu Hause und nehme einen lokalen Bus in ein Dorf oder Vorort, den du vielleicht noch nie besucht hast. Plane Erkundungstouren, die den Dschungel und die Wüsten deiner heimatlichen Nachbarschaft durchqueren. Besuche eine Kirche, ein kommunales Zentrum, ein Café, eine Bücherei oder ein Kino, an dem du tausendmal vorbei gingst, aber das du nie betreten hast.
Slow Travel belebt unsere Wahrnehmungsgewohnheiten, fordert uns dazu auf, tiefer in die Dinge zu schauen, von denen wir denken, dass wir sie bereits kennen. Und das Beste daran ist, es führt das Willkommen Heißen von Zufällen wieder ins Reisen ein. Genau wie es der launische Esel bei Freya Stark und Robert Louis Stevenson tat. Wenn wir mit dem Flugzeug von London nach Lissabon fliegen, wissen wir in etwa, wann wir ankommen. Aber wenn wir losziehen, um von Lissabon nach London nur lokale Busse, Züge und Fähren zu nutzen, haben wir keine klare Vorstellung davon, was auf dem Weg passieren wird, noch wann wir das Ziel London erreichen.
Für einige Reisende ist die große Unsicherheit beunruhigend. Schnelle Leben benötigen bestätigte Ankunftszeiten. Slow Traveller erfreuen sich an der Magie des Ungewissen. Théophile Gaultier, der Reiseautor aus dem 19. Jahrhunderts, den wir eingangs erwähnten, bedauerte, dass bereits zu seinen Tagen wenig Abenteuer dem Reisen innewohnte. Die Abwesenheit der Ungewissheit lässt eine betäubende Langeweile entstehen, die Moskau und Madrid nicht unterscheiden lässt. „Welchen Charme kann eine Reise noch haben“, fragt Gautier, „wenn man immer weiß, wann man ankommt sowie Pferde bereitfindet, ein weiches Bett, ausgezeichnetes Abendessen und jeglichen Komfort, den man zu Hause genießt?“.
Die Kunst des Langsamreisens
Das Reisen ist, wie Alain de Botton und treffend erinnert, der Vater der Gedanken. Ein guter Gedanke ist, wie ein guter Esel, etwas, was gepflegt werden muss. Beide werden nicht gerne getrieben. Also mache einen Vorsatz für 2009. Denke nach, bevor du fliegst. Reise langsam, erkunde Umwege, vermeide die großen touristischen Sehenswürdigkeiten und wo du ursprünglich nur eine Nacht bei der Durchreise schlafen wolltest, bleibe stattdessen einige Tage. „Die Kunst des Lebens“, sagte Carlo Petrini, der charismatische Gründer der Slow Food-Bewegung, „ist zu lernen, Zeit allem und jedem zu widmen.“ Und das beinhaltet mit Sicherheit auch das Reisen.[1]
[1] Die Übersetzung wurde anhand des folgenden Originaltextes vorgenommen: Gardner, Nicky (2009): A Manifesto for Slow Travel, In: https://www.slowtraveleurope.eu/slow-travel-manifesto (20.09.2020).
Übersetzung von Anika Neugart.